Die 13 als Glückszahl


Manchmal werden durch Chuzpe Weichen gestellt, wird der Lebensweg in die entscheidende Bahn gebracht. So bei Manfred Reichert. Er hatte in Karlsruhe Musik studiert, war nach dem Staatsexamen zeitweise als Kritiker für die Badischen Neuesten Nachrichten unterwegs und als Gymnasiallehrer tätig, gehörte seit fünf Jahren zur Musikredaktion des in Baden-Baden ansässigen Südwestrundfunks (SWR) und nun, Ende 1972, beflügelte ihn der Wunsch, ein dreizehnköpfiges Ensemble zu dirigieren, das aus Streichern des SWR-Sinfonieorchesters bestand. Reichert wandte sich an den Konzertmeister, bot als Gegenleistung einen Auftritt in Karlsruhe an: „Der Vorschlag war verrückt, tollkühn, ich muss nicht recht bei Sinnen gewesen sein“, schrieb der Musiker später rückblickend.


Die 13 wurde für Reichert zur Glückszahl. Das vereinbarte Probedirigat verlief offenbar zur Zufriedenheit der Instrumentalisten und so war gleichsam der Grundstein für eine lange und fruchtbringende Zusammenarbeit gelegt. Schon bald gab es signifikante Änderungen. Statt des Fracks, den er sich für seine neue Aufgabe gekauft hatte, nutzte Reichert fortan einen schwarzen Anzug, und aus dem „Badischen Kammerorchester“ machte er das „Ensemble 13“. Die Zahl wurde zur Chiffre für das Ungewöhnliche, Unbekannte: Zahlreiche Uraufführungen brachte das ambitionierte Streichorchester heraus, sei es von Hans-Joachim Hespos, sei es von Hans-Christian von Dadelsen, mit dem Reichert einen regen Austausch in ästhetischen Fragen pflegte. Nicht zuletzt aber waren es – zumindest in der Frühzeit des Ensembles – Kompositionen von Wolfgang Rihm, die unter der Leitung Reicherts uraufgeführt wurden. Schau- und Hörplätze dieser Klangereignisse waren die von dem Dirigenten gegründeten Festivals „Wintermusik“ und „Musik auf dem 49.“, die zu wichtigen Foren neuer Musik avancierten. Seine Kompetenz in Sachen Avantgarde legten es denn auch nahe, ihm von 1883 bis 1988 die künstlerische Leitung des städtischen Teils der Europäischen Kulturtage anzuvertrauen. Parallel dazu fungierte Reichert von 1985 bis 1987 als Leiter der ersten Projektgruppe des Karlsruher Zentrums für Kunst und Medientechnologie (ZKM), zu dessen Konzeption er wesentliche Impulse beigetragen hatte.
Dreh- und Angelpunkt blieb ihm die Musik – mit aller Offenheit: „Manfred Reichert hat von jeher nachdrücklich die These vertreten, dass es letztlich keine ‚neue‘ oder ‚alte‘, ‚ernste‘ oder ‚unterhaltende‘ Musik gibt“, hieß es 1998 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit Blick auf das Programm zum 25-jährigen Bestehen des Ensembles 13. Das Jahr 2007 bedeutete dann eine große Zäsur: Reichert wurde als Professor für Neue Musik an der Universität Mainz emeritiert und beendete seine musikalischen Aktivitäten. Seit 2000 war er bereits als Gestalt- und Traumatherapeut und damit im gleichen Metier tätig wie seine Ehefrau Hanna Reichert, 2012 begann er zu malen. Jetzt ist Manfred Reichert einen Monat vor seinem 76. Geburtstag nach schwerer Krankheit gestorben. Michael Hübl
*Manfred Reichert: Fremder Ort Heimat. Simon Verlag für Bibliothekswissen. 268 Seiten, 23,50 Euro.*
MANFRED REICHERT war bekannt durch seine „Musik auf dem 49.“. Foto: Dissé
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